„Ihr habt keine Ahnung, was wir durchgemacht haben!“ – so lautete stets die abwehrende Antwort, die Dorothee Röhrig in ihrer Kindheit und Jugend von ihrer Mutter erhielt, wenn die Sprache auf den Einsatz vieler Familienangehöriger in der Zeit des Nationalsozialismus kam. Ihr Großvater Hans von Dohnanyi trug seit 1933 in aller Stille im Rahmen seiner Tätigkeit im Reichsjustizministerium Unterlagen zusammen, mit denen das menschenverachtende Handeln führender Nationalsozialisten nach einem möglichen Umsturz hätte bewiesen werden können. Die Großmutter Christine Bonhoeffer unterstütze ihren Mann und war ebenso wie ihre Brüder, der Jurist Klaus Bonhoeffer und der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, aktiv im Widerstand tätig. Nach dem Attentat Claus Schenk Graf von Stauffenbergs auf Adolph Hitler am 20. Juli 1944 wurden allerdings Aufzeichnungen entdeckt, die die Beteiligung Hans von Dohnanyis und weiterer Familienmitglieder am Widerstand nachwiesen. Alle bis auf Christine Bonhoeffer, der es gelang, sich als ahnungslose Ehefrau und Mutter auszugeben, bezahlten ihren Einsatz gegen den NS-Staat mit dem Leben und wurden kurz vor Kriegende hingerichtet.
Angst der Mutter als Grund für Rückzug
Dass sich ein Mensch angesichts dieser Ereignisse stärker abschottet und Gefühle weniger zeigt, damit setzt sich Dorothee Röhrig in ihrem Buch auseinander. So habe sie der bereits zitierte Satz „Ihr habt keine Ahnung, was wir durchgemacht haben!“ als Heranwachsende zwar tief verletzt, da nur der als ernstzunehmender Gesprächspartner in dieser Angelegenheit galt, der die NS- Zeit auch miterlebt habe. Mit dem Erwachsenwerden und insbesondere im Zuge der persönlichen Auseinandersetzung beim Verfassen ihres Buches habe sie aber nach und nach begriffen, dass der innere Rückzug eine Umgangsform für ihre Mutter gewesen sei, mit den Schrecken der Vergangenheit umzugehen. So habe diese miterleben müssen, wie ihre Eltern in Gestapo-Haft genommen wurden. Darüber hinaus sei die Angst ein ständiger Begleiter für Dorothee Röhrigs Mutter gewesen – zum Beispiel dann, wenn sie wieder und wieder geheime Botschaften vom Vater aus dem Gefängnis herausschmuggeln musste.
Nur „Wiedergutmachung“ in der Bundesrepublik
Insofern sei das Nicht-Zulassen von Gefühlen auch eine Strategie gewesen, um bei all der Angst und dem Leid überleben zu können. Das habe auch nach dem Zusammenbruch des NS-Staates gegolten. In der noch jungen Bundesrepublik sei es schwierig für ihre Mutter gewesen, über das eigene Schicksal mit Außenstehenden zu sprechen, wie Dorothee Röhrig eindrucksvoll berichtet. Darüber hinaus sei es als Niederlage empfunden worden, dass NS-Richter, die die Todesurteile über die nahen Familienangehörigen gefällt hätten, unbehelligt großzügige Pensionen erhielten, während die Mutter nur einen äußerst geringen Betrag als „Wiedergutmachung“ erhalten habe.
Plädoyer für Auseinandersetzung mit eigener Geschichte
Entsprechend feinfühlig führte Dorothee Röhrig die Geschichte ihrer Familie aus und eröffnete den anwesenden Lernenden und Lehrenden einen Blick darauf, wie schwerwiegende Ereignisse auch auf das Leben nachfolgender Generationen einen Schatten werfen können. Umso stärker stellt ihr Buch auch ein Plädoyer dafür dar, der eigenen Lebensgeschichte bzw. der naher Angehöriger auf den Grund zu gehen, um auf diese Weise Verständnis für sie zu gewinnen – ein bemerkenswerter Ansatz, der den ein oder den anderen sicherlich angesprochen haben dürfte.
Verantwortung übernehmen – auch heute
Besonders berührt haben dürfte die anwesenden Lernenden und Lehrenden aber das Schicksal der Familienangehörigen. Ihr Einsatz gegen den Nationalsozialismus beeindruckt und führt zugleich vor Augen, dass es solche mutigen Menschen braucht, die die Stimme erheben – insbesondere auch, wie Dorothee Röhrig betonte, in der heutigen Zeit.
Dank an Diotima-Gesellschaft
Dass diese Lesung am Gymnasium St. Xaver stattfinden konnte, ist insbesondere den Verantwortlichen der Diotima-Gesellschaft zu verdanken. Sie ergriffen die Initiative und stellten den Kontakt zu Dorothee Röhrig her, die auch einen Abend zuvor im Gräflichen Park aus ihrem Buch las.